DIE WELT
Die Entstehung der Welt
Dass magisch Gott die Welt erschuf,
allein mit seinem Wort und Ruf
und als ein Vater hoch regiert:
so hat man’s lang imaginiert
Doch dieses Bild ist sehr verkürzt,
patriarchal dazu gewürzt
Nach allem, was wir überseh’n,
sind doch Entwicklungen gescheh‘n
Denn in der langen Erdgeschichte
war'n Menschen erst mal kleine Wichte
Gedauert hat sie Jahrmilliarden -
dann wuchs der wilde Erdengarten
Das Leben hier auf dieser Erde
ist für die meisten schon die Härte
In uns’rem Land hat man gedacht:
aus Eis und Feuer wurd’s gemacht
Der Norden war bedeckt von Eis,
der Süden trocken und sehr heiß
Wo sich die Elemente trafen,
entstand‘ ein Ries, YMIR mit Namen
und aus dem Reif noch eine Kuh
Die gab ihm ihre Milch dazu
AUDHUMLA leckte nur die Steine -
auf einmal sah man ein paar Beine,
dann ganze Wesen, die erwachten,
die sich bewegten, Liebe machten
Drei starke Söhne zeugten sie,
die waren so voll Energie,
dass sie YMIR das Leben nahmen
- da gab's noch keinen festen Rahmen -
So schufen sie aus ihm die Welt,
das Land, das Meer, das Himmelszelt,
das Reich der Götter, das der Menschen
- man wusste auch noch nichts von Grenzen -,
das Reich der Riesen, Elfen, Zwerge
Die Söhne gingen klug zu Werke:
die Weltenesche in der Mitte,
sie war das Band und auch die Brücke
Neun Welten war‘n hier angesiedelt,
beschützt von NORNEN - und gezügelt
Wenn uns manchmal das Grauen packt:
noch ist der Lebensbaum intakt!
Noch sind vom Schicksal wir bewahrt
Gesegnet sei die große Fahrt!
Ymir und Audhumbla - Bronzeskulptur von E. Jonsson in Reykjavik
ASK UND EMBLA
Ist der Mensch mit den Bäumen verwandt,
verwurzelt nach unten mit festem Stand,
nach oben zum Licht gen Himmel entfaltet,
so strebend wie sie und aufrecht gestaltet?
Man könnte es meinen, so sagen die Alten
So hat man erzählt von Meeresgewalten,
die spülten einst zwei Stämme ans Land -
man hat sie Ask und Embla genannt
Die Esche und Ulme wurden entdeckt,
zu Mann und Frau von den Göttern erweckt
Der Wodan hauchte in sie das Leben,
Wili hat die Vernunft gegeben,
Lodur das Blut und gute Farbe -
da fehlte nur noch eine Aufgabe!
Familie gründen und sich vermehren,
von Pflanzen und Tieren sich zu ernähren,
für sie zu sorgen, dass alles gedeiht,
das Land zu bebau’n zu seiner Zeit
So mögen auch wir wie die Bäume leben:
in Eintracht und Vielfalt und hohem Streben
Nach der germanischen Mythologie gingen Odin, Hönir/Wili und Loki (Lodur) am Meeresstrande entlang und kamen zu zwei angespülten Bäumen am Meeresstrand, einer Esche und einer Ulme. „Aus diesen beiden Bäumen“, sprach Odin zu seinen Brüdern, „lasst uns Menschen machen, auf dass Midgard, die schöne fruchtbare Erde, von ihnen und ihren Nachkommen bewohnt und bebaut werde und wir an ihrem Tun und Treiben, Ringen und Sterben, Blühen und Gedeihen Freude haben!“
So sprach Odin, der Allvater, und sie schufen aus der Esche einen Mann und aus der Ulme ein Weib. Odin verlieh ihnen Geist und Leben, Hönir gab Verstand und Bewegung hinzu, Loki spendete ihnen die Sinne, Gefühle, blühende Farbe und Sprache.
So stand das erste Menschenpaar vor den Göttern, und Odin streckte seine Hand aus über Midgard und sprach zu den Neuerschaffenen: „Seht! Dies Land ist eure Heimat! Hier sollt ihr fortan wohnen, Tiere züchten und zähmen, das Land bebauen und die Früchte der Bäume und des Feldes essen – ihr und eure Kinder und Kindeskinder!“ Da folgten sie seinem Gebot; und von ihnen stammen alle Völker germanischer Zunge, welche das weite Midgard bewohnen.
DIE RIESEN
Die Alten sprachen viel von ihnen,
die unseren Respekt verdienen
Die Riesenkräfte der Natur
sind von gewaltiger Statur
Die weiße Welt lässt uns erfrieren,
die Bergeshöh' kapitulieren
Die Feuerzungen uns verzehren
und Sümpfe uns den Weg verwehren
Der Sturmwind packt mal heftig an,
die hohe See schluckt Maus und Mann
Der Wald lässt dich nicht mehr hinaus,
ein Erdstoß begräbt Dorf und Haus
Doch sind sie nicht nur dumm und mächtig,
denn manche sind auch weise, prächtig
Die Quelle ist fast unerschöpflich,
der Sternenhimmel unermesslich
Die Bergeshöhle nimmt dich auf,
der Fluss sucht seinen besten Lauf
Der Wind weht grade, wie er will,
die Abendröte macht dich still
Vulkane, Hitze, starke Beben:
die Riesen wird es immer geben
Orkane, Fluten und Gewitter -
nur Menschentorheit, die ist bitter
ZWERGE
Sie wohnten in Felsen, hausten im Boden:
die Geister der Erde war‘n dort aufgehoben
Sie mieden das Licht, war‘n tüchtige Schmiede,
sie hüteten Schätze und kannten die Liebe
Heut finden wir sie in so mancher Geschichte
Die Kinder lieben die freundlichen Wichte
Weißbärtig und nett steh’n sie in den Gärten,
missachtet konnten sie bösartig werden
Der Zwerg gehört zur inn'ren Welt
Der Kleinwuchs fasziniert, missfällt
Denn manchmal ist das Kleine groß
und stellt das scheinbar Große bloß
Die Kräfte der Erde, die kleinen, verdeckten,
die Arbeit der Käfer, Würmer, Insekten,
Bakterien und Pilzen, die machen aus Totem
einen herrlich brauchbaren, fruchtbaren Boden
Die Zwerge personifizieren die Erdkräfte. Sie sind in der germanischen Mythologie älter als die Menschen. Sie entstanden zur Urzeit aus den Maden, die sich im verwesenden Leichnam des Urriesen Ymirs gebildet hatten. Damit ist ihr abstoßendes Äußeres schon vorgegeben. Daneben schrieb man ihnen auch noch einen bösen, habgierigen und listigen Charakter zu. Es gab aber unter ihnen die gutmütigen und freundlichen genauso wie die hässlichen und gemeinen. Bekannt sind sie als geschickte Handwerker, die in der Lage sind, magische Gegenstände herzustellen. Thor verdankt ihnen seinen Hammer, Freya ihren Halsschmuck, Odin seinen Ring und seinen Speer, die Fessel des Fenriswolfes ist eine Zwergenarbeit, sogar der Dichtermet verdankt sich dem Blut eines Zwerges (Kvasir).
Sie wohnen in der Erde und brauchen ihr Dunkel. Sonnenlicht scheuen und meiden sie. Sie sind überwiegend männlich, nur ein einziger von 200 Namen in der Edda ist weiblich. Die Zwerge sind Bewohner der Anderswelt wie die Götter auch. Das christliche Mittelalter hat sie später dämonisiert: sie würden das Glockengeläut nicht ertragen etc.
ALWIS
Er war der Wissendste aller Zwerge,
im Fels war sein Haus tief unter der Erde
Die Tochter des THOR, sie wurd‘ ihm versprochen
Als der Vater heimkehrte, hat er widersprochen:
„Bevor meine THRUD sich ins Erdreich begibt,
einen Zwergen heiratet, umsorgt und liebt,
will ich dich prüfen mit einigen Fragen
Du sollst mir alle die Namen sagen,
die in den Welten gebräuchlich sind
von Himmel und Erde, Wolken und Wind!“
Der tat’s ohne Fehl, die Nacht ging dahin
und THOR war begeistert und hielt ihn hin
mit Frage um Frage. Ohne Misstrau‘n
erwiderte der bis zum Morgengrau‘n
Der erste Sonnenstrahl fiel dann herein
Und ALWIS, der Zwerg, erstarrte zu Stein
Dem Zwerg ALWIS (der ‚Allweise‘) war in Abwesenheit THORS von den Göttern dessen Tochter Trudh als Gegenleistung für die von ihm geschmiedeten Waffen versprochen worden. Der Donnergott verwickelt den unerwünschten Schwiegersohn in einen Wissenstest, von dessen Ausgang er die Übergabe seiner Tochter abhängig macht. ALWIS soll verschiedene Elemente und Ereignisse der Natur bei Menschen, Göttern, Alben, Zwergen und Riesen benennen. Treu beantwortet ALWIS alle Fragen und vergisst darüber die Zeit. Als die ersten Sonnenstrahlen in die Hallen Asgards fallen, erstarrt der betrogene Zwerg zu Stein. Im Gegensatz zu seinem Vater ODIN im Wafthrudnir-Lied siegt THOR nicht durch Wissen, sondern durch List.
WIE IST DIE WELT?
Die Welt, sie ist, man glaubt es kaum
Die Alten sagten: wie ein Baum
Die Unterwelt ganz tief verborgen
Da sind die Wurzeln, ist’s geworden
Die Mittelwelt am hellen Tage
Schenkt einen Becher Glück und Plage
Die Himmelswelt ist lichtvoll prächtig
Die Geistesblitz kommt fein, doch mächtig
Am Fuß des Baum's sind wir ein Zwerg
Was zählt schon unser kleines Werk?
Was können wir am Weltgang ändern
Wir kleine Bürger an den Rändern?
Wir sind die, die den Baum begießen
Wir sind die Blätter, die grün sprießen
Wir sind der Drache, der da nagt
Sind auch die Krankheit, die ihn plagt
Die Runen sprechen, deuten still
Sie zeigen, was da werden will
So lang wir diese Erde hegen
Gibt uns der Weltenbaum den Segen
MIMIRS BRUNNEN
Am Fuß des Weltenbaumes
entspringt ein kühler Quell,
bewacht von einem Riesen
im Geiste klar und hell
Den muss man überzeugen,
dass man auch würdig ist,
von diesem Brunn zu trinken,
der in der Stille spricht
Ein Schluck von seinem Wasser:
der Geist wird ruhig und klar
So wird man klug und weise
und schaut, was kommt, fürwahr
Umsonst gibt's keine Gabe,
man gibt auch etwas her
von dem, was alt geworden
und sei es noch so schwer
In uns, da quillt der Brunnen,
den man so heiß begehrt,
das Wasser, das nicht nässt
und dennoch tränkt und nährt
Der Urbrunnen in der nordischen Mythologie birgt die Wasser, die den Weltenbaum tränken. Er ist die Lebensgrundlage schlechthin und Quelle von Weisheit und Wissen. ER wird vom Riesen MIMIR bewacht. ODIN gibt ein Auge dafür, um daraus trinken zu dürfen und erhält dafür die Gabe der Weissagung. Auch in der Bibel erscheinen die Lebenswasser, der Lebens- und der Erkenntnisbaum dicht beeinander (1. Mose 2/9ff, Ofb 22/14.17).
DAS THING
Die Götter kamen jeden Tag
Zum Weltenbaum und hielten Rat
In seinem Schatten wurd erwogen
und Schlüsse dann daraus gezogen
Die Nornen luden dazu ein,
denn Frauen m u s s t e n dabei sein,
dem Frieden eine Chance zu geben,
damit auch alle danach streben
So hielt man es denn auch auf Erden:
Gerechtigkeit soll sein und werden
Man traf sich unter freiem Himmel,
weit weg von allem Kriegsgetümmel,
besprach sich unter einem Baum,
ein jeder hielt sich dort im Zaum,
hielt Thing nach alter Götter Sitte,
sprach Recht, beriet die nächsten Schritte
Ein Thing war eine Volks- und Gerichtsversammlung nach altem germanischen Recht. Die Thingstätte lag häufig etwas erhöht oder unter einem Baum, aber immer unter freiem Himmel. Die dort verhandelte Sache wurde im Neudeutschen zum ‚Ding‘ (engl. ‚thing‘). Mit der Eröffnung der Versammlung wurde der Thingfriede ausgerufen. Als Schutzherr des Things galt der altgermanische Gott TYR. In vorchristlicher Zeit sollen Thingplätze auch kultischen Zwecken gedient haben.
Alte Gerichtseiche bei Holzhausen (Reinhardswald)
DREI FEINDE
Drei Feinde kennt die alte Welt
von denen man nicht gern erzählt
Von einem Gott und einer Riesin
glichen sie an Kraft auch diesen
Ihr Vater LOKI war sehr schlau,
Angrboda eine Riesenfrau
Gigantisch wurden so die Kinder
und furchterregend auch nicht minder
Die Schlange wohnt im tiefen Meer
Als Drache fürchtet man sie sehr
Jedoch zum Meer gehört's dazu:
das Ungeheure ist tabu
Der Wolf, das ist der zweite Feind,
der in der Seele dir erscheint
Er reißt und frisst, was er grad findet
Wohl dem, der ihn bezähmt und bindet
Als letztes wartet dann der Tod
Die HEL beendet alle Not
Doch auch das Glück, die Lebensfreud
Das Totenreich die Sonne scheut
Angrboda, die „Angstbotin“, -bringerin, war die Mutter, Loki, „der Luftige" der Vater der drei Kinder, die die alten Germanen fürchteten. Mit der Riesin zeugte Loki drei Kinder, die, nach einer Prophezeiung, sich einst am Ende der Zeiten erheben und das Ende der alten Götter und Welt einläuten werden: die Midgardschlange, der Fenriswolf und die Totengöttin HEL.
DIE MIDGARDSCHLANGE
Der Riese HYMIR und der THOR,
die fuhren aus auf's Meer. Bevor
das Land noch ganz verschwunden war,
griff THOR zur Angel, sonnenklar,
dass nun die Zeit gekommen ist,
die Schlang' zu fangen mit viel List
Die Weltenschlange lebte dort
tief unten in dem Meereshort
Mit einem Ochsenkopf als Köder,
so ging er vor, der Schwerenöter
Und s i e biss an und schoss herauf
E r sprang zurück - und gleich darauf
trat er durch's Boot hindurch auf Grund
Die Schlange öffnete den Schlund
Doch er stand fest und griff zum Hammer
Er holte aus - doch welch ein Jammer:
Der Riese war noch etwas schneller,
wahrscheinlich auch bedeutend heller
Dem HYMIR es zu danken ist,
dass er die Angelschnur durchschnitt,
dem Meere seine Wildheit ließ
Denn niemand uns zu angeln hieß
nach solchen Kräften, grausam-rohen,
die dann und wann uns arg bedrohen
Die Schlange fuhr zurück ins Meer
Es kommt ja nicht von ungefähr,
dass wir bewahrt sind in den Grenzen,
die uns gegeben sind als Menschen
Die Hilfe braucht es immer wieder
in uns'res Lebens Auf und Nieder
Des Gottes Hammer ruf ich an,
wenn nichts mehr hilft bei bösem Bann
In vielen Traditionen gibt es die große Schlange, den Meeresdrachen. Bei unseren Vorfahren war es die Midgardschlange, die in den Urwassern die Welt umgab und sich wieder in den Schwanz beißt. Sie war Trägerin von Urängsten und Spiegel der Gefahren, die den Menschen und seine Welt gefährden. Sie ist ein Ursymbol der Lebenskraft, der Heilung, wie auch der Bedrohung - und zugleich ein reales Tier, das viele Ängste in uns weckt. Die Mythen unserer Vorfahren sahen in der Schlange eine tödliche Gefahr: im Ozean schlummert sie und umgibt uns vollständig. Der erste 'Drachentöter' war THOR, der sich einmal richtig mit ihre angelegt hat. Er fuhr mit dem Riesen Hymir in einem Boot auf's Meer hinaus und warf seine Angel aus ...
DER FENRISWOLF
D e n Wolf, den kann man leise ahnen,
der gerne ausbricht aus den Bahnen,
umherstreift, frisst, was er grad findet,
sich nirgendwo so richtig bindet
Ein junges Lamm, ein zartes Reh:
tut er nicht jedem Wesen weh?
Ein Hirsch, ein Hase, ein Fasan:
die steh'n auf seinem Speiseplan!
In Banden ist er schon verträglich
Da heult er nur, ist gar nicht schädlich
Entfesselt aber – weh dem Land:
da ist er außer Rand und Band!
Zuletzt, da muss er selber sterben,
ereilt ihn selbst jenes Verderben
Nur reißen, fressen und verzehren –
man sollt auch seine Seele nähren!
So wie die Menschen Ahnungen haben vom Werden und von der Entstehung der Welt, so haben sie auch Ahnungen von ihrem Vergehen. Der Fenriswolf ist der mythische Wolf der Germanen, ein Symbol entfesselter Aggression, wie man es in Kriegen erleben kann. Er ist von seiner Bedeutung her der ‚Sumpfwolf‘. Es sind die unheimlichen Tiefen der Seele und der Welt, die hier berührt sind. Die sumpfigen Gewässer können alles verschlingen, sie können aber auch wieder neues Leben hervorbringen.
Vidar im Maul des Fenrir, Collingwood 1908
RAGNARÖK
Wenn es an die Wurzel geht,
wenn es heißt: es ist zu spät!
Wenn das Feuer alles frisst
und kein Mensch mehr das ermisst
Wenn die Kriege sich ausbreiten,
wenn so viele Wesen leiden
Wenn die Ängste uns erfassen
und es Tote gibt in Massen,
dann ist die alte Welt am Ende!
Dann braucht es eine große Wende
Dann hat man’s wohl zu weit getrieben,
wie’s in den Schriften stand geschrieben
Dann muss was Neues auferstehen
und muss man neue Wege gehen
Dann hat man irgendwo versagt
Ein neuer Mensch ist dann gefragt
Anm.: Ragnarök, das ‚Schicksal der Götter‘, ist die germanische Apokalypse, das Ende der
bisherigen bekannten Welt, die dadurch eingeleitet wird, dass der Drache unter dem Wel-
tenbaum dessen Wurzel durchbeisst. Dann setzen die großen Katastrophen ein, an deren
Ende ein Neuanfang verheißen ist. Im Neuen Testament wird ebenfalls ein kosmisches Drama geschildert, das die bekannte Welt vergehen und eine neue werden lässt (Apk).