Weisheitsgeschichten
Weisheitsgeschichten geben uns auf unterhaltsame Weise einen Spiegel. Das kann uns erheitern, ermuntern, auch infrage stellen. Es gibt sie in vielen Traditionen. Jenseits religiöser und ethnischer Konflikte zeigen sie uns etwas Menschliches, etwas von dem, was uns als Menschen zutiefst eint.
Der Schneider
So sprach der Rabbi zum Jom Kippur:
nun kommt der Tag, der Frieden hat
Wie man ihn feiert, kann ich euch sagen:
Geht hin zum Schneider am Rande der Stadt!
Die Leute gingen und schauten durch's Fenster
Dort war man festlich versammelt am Tisch
Die Lichter brannten, man betete leise
Das Mahl war bereitet, die Kleider ganz frisch
Da griff der Schneider hinein in den Schrank
und holte heraus ein kleineres Buch
Er las seine Sünden von diesem Jahr:
sein Unmut, sein Zorn, ein entflohener Fluch
Noch einmal griff er in diesen hinein
und holte ein dickeres langsam hervor
Hier war getreulich alles verzeichnet,
was Gott der Herr ihm getan hat zuvor:
das harte Schuften von früh bis spät,
die zerstochenen Finger, das kärgliche Brot,
die gequälte Seele, der kränkliche Leib,
die Mäuse im Keller - und all ihre Not
„Mein Gott, vergeben sind Dir Deine Sünden
Oh Herr der Welt, vergib mir auch!
So können wir in Frieden leben
und aufrichtig feiern diesen Brauch“
Nach einer chassidischen Geschichte - zum Vorabend des großen Versöhnungstages (Jom Kippur, 3. Mose 16), des höchsten jüdischen Feiertages, der als Tag des Fastens, der Reue und der Umkehr bis heute selbst von nicht-religiösen Juden begangen wird.
Was wir nicht hören
Ein weißer und ein roter Mann,
die gehen durch die Stadt
Der Indio hält ganz plötzlich an –
'Was der auf einmal hat?'
Zlrip zlirp – die Grille zirpt
da mitten in dem Strauch
Ein jeder läuft und rennt vorbei –
ich tät's vermutlich auch
Der Indio lauscht den feinen Tönen,
doch keiner hat‘s gehört
"Wir haben wohl was auf den Ohren!"
ruft unser Weißer ganz empört
"Du irrst, es liegt an and'ren Dingen,
denn schau, ich hab hier 50 Cent
Ich werfe sie mal auf die Strasse,
ganz vorsichtig und ganz dezent" ...
Uiih, welch ein schönes, helles Klimpern
tönt da so verheißungsvoll?
Ein jeder wollte sich schon bücken,
ja, Geld zu finden wäre toll!
Wir sind geeicht auf viele Dinge,
die uns heut' so wichtig sind
Doch lauschen einem Lied der Grille?
Da würde wieder wach ein Kind
Im Anschluss an eine Geschichte von Frederic
Hetmann
Bild: Carola68, Pixabay
Bruder Bruno
Versunken im Gebet zur Nacht
Vernimmt der Bruder lautes Quaken
Der Ochsenfrosch sang grad‘ sein Lied
Das war noch schlimmer als die Schnaken!
Ganz aufgebracht ruft er hinaus:
‚Gib Ruhe, Frosch, bin beim Gebet!‘ -
Er horcht und wartet eine Zeit
Und siehe da: der Lärm vergeht!
Da kommt ihm etwas in den Sinn:
Gott liebt doch unser Stimme beider!
Er hält kurz inne, ruft sodann:
‚Mein lieber Frosch, sing ruhig weiter!‘
Das Konzertier’n hebt wieder an
Der ganze Teich fängt an zu singen
Der Bruder stört sich nicht mehr dran
Er war jetzt eins mit allen Dingen
Nach einer Geschichte von A. de Mello
Die bittere Melone
Ein Herr, der hatte einen Diener,
der ging so treu die Wege mit
'Bereite heute die Melone,
ich habe darauf Appetit!'
So sprach er und der Diener folgte,
servierte ihm die süße Frucht
'So koste sie!', bat der ihn freundlich
Er hatte sie selbst ausgesucht
Der nahm ein Stück, ein zweites, drittes,
er aß das ganze schöne Obst
Der Herr nahm rasch den letzten Bissen,
verzog die Miene, leicht erbost
'War'n deine Stücke auch so bitter?'
'Ja, sie waren fürchterlich!'
'Warum hast du dann nichts gesagt?',
so fragte er ihn väterlich
'So lange bin ich Euch zu Diensten,
hab' so viel Süßes schon erfahr'n
Das bisschen Bitt'res leid ich gerne
So konnt' ich's Euch Gottlob erspar'n!'
Nach einer Sufigeschichte
Zwei Frösche sahen einen Eimer
- ängstlich war von ihnen keiner
Der erste sprang direkt hinein
Der and're sogleich hinterdrein
Mit frischer Milch war er gefüllt,
so ward ihr Hunger bald gestillt
Sie schwammen viele schöne Runden
und tranken, tranken. Fast versunken,
wollt' ersterer wieder heraus
Doch packte ihn alsbald der Graus
Der Eimerrand war spiegelglatt
Er wurd' verzagt, sein Geist wurd' matt
Was hat das noch für einen Sinn!?
Er sprach's - und sank - und war dahin
Der zweite ruderte entschlossen
und strampelte ganz unverdrossen
Es war schon Nacht, er gab nicht auf
Fast gab er selber nichts mehr drauf
Frühmorgens doch sah er sein Werk -
und fand sich auf 'nem Butterberg
Es war ein Frosch im Brunnen
Hat dort sein Lied gesungen:
Die Welt, sie ist so furchtbar klein
Und dunkel auch noch obendrein
- Da ist er rausgesprungen
Der blinde Pater
Von Beda Venerabilis
Erzählte man, das ist gewiss
Dass er erblindet war im Alter
Jedoch, er kannte seinen Psalter
Auch Predigen fiel ihm nicht schwer
Ein junger Mönch führt‘ ihn umher
Sein Sermon kam von ganzem Herzen
Doch sein Novize wollte scherzen
Und führte ihn mal in ein Tal
Mit Steinen in ganz großer Zahl
‚Nun sprecht‘, sagt er, ‚so viele sind
Hier stille lauschend wie ein Kind‘
Der Pater sprach mit großem Feuer
Mit einer Inbrunst ungeheuer
Er schloss - und wartete auf ‚Amen‘
So lange Stille ... plötzlich kamen
Ganz feine Klänge hoher Sphären
Als ob es Engelschöre wären
Er erschrak – ‚was ist denn dies?‘
Der Junge sagte: ‚ich war fies,
Und ließ Euch hier zu Steinen reden
Könnt Ihr mir noch einmal vergeben?
Nun diese hoben an zu singen
Und kündeten von hohen Dingen!‘
Der Pater war sehr schnell versöhnt
Denn selbst Franziskus ward‘ gekrönt
Durch seine Vogelpredigt, deren Triebe
Entsprangen einer tiefen Liebe
Ein Meister über einem kranken Kind
sprach ein paar Worte, leise, lind
Gab’s seinen Eltern dann zurück:
‚Das mag nun heilen, Stück um Stück‘
Ein Fremder, der das mit ansah
hielt dieses alles nicht für wahr:
'Wie kann ein Kind ohn‘ Arzenei
gesunden nur durch Beterei?'
Der Meister wies ihn daraufhin
sehr scharf zurecht und sagte ihm:
‚Verstehst du nicht, bist du ein Narr!‘ -
Der war beleidigt - um ein Haar
hätt‘ er denselben angeschrien
Der Meister aber sprach zu ihm:
‚Wenn nur e i n Satz dich s o erregt,
mein Wort nicht auch das Kind belebt?
Nach einer Sufi-Geschichte
Ein Sufi-Meister, Gotteslehrer
hatte einmal einen Traum:
Geh zur Göttin, ihrem Tempel
verneige dich vor ihrem Saum!
Er war entschlossen, dem zu folgen
Doch seine Schüler war'n entsetzt
Darf man zu fremden Göttern geh'n?
Nur einer folgte ihm zuletzt
Der schwarzen Göttin Aug' in Auge
wurd sein Herz zutiefst berührt
Er warf sich nieder, gab ihr Ehre
Gesehen hat er - und gespürt
Der Schüler stand ganz still dabei
Er s a h das Eine, war beglückt
Den Andr’en blieb’s wohl weiterhin
ein Sakrileg - und ganz verrückt!
Nach einer Sufi-Geschichte. Kali ist im Hinduismus die Göttin des Todes und der Erneuerung.
What is the biggest treasure, you can find?
A young man left all things behind,
he travelled north and searched for gold,
he travelled west and people told:
"help us to work, but shut your mouth!"
He turned away and rode to south
He reached a village with old men,
sitting comfortably – and again,
very frustrated he went away
and to the east he took his way
In a small hut he felt harmony,
a wise man lived there peacefully
He stayed with him throughout three years
One day, he was verging on tears
"I must go home!" he told him honestly
"I want to ask you, answer truly:
what is the biggest treasure one can find?"
He said: "desire nothing in your mind!"
He rode back home and told his wife:
"no greed for gold and no more strife!
I’ll live with you in modesty,
in work and peace and sympathy
Let us together find the way
and spread the treasure anyway!"
Nach einer Geschichte von Gerhard Breidenstein
Ein Meister hatte einen Garten
der blühte schön, war gut gepflegt
Ein Schild stand da vor seine Hütte
das hat die Menschen sehr bewegt:
'Dies Grundstück werde ich verschenken
dem, der ganz schlicht zufrieden ist
Demselben werde ich es geben
ob arm ob reich, ob Bösewicht
Ein Kaufmann kam daher des Weges,
der las und sprach: 'Ich bin der Mann!
Ich habe alles, was ich brauche -
die Chance, die wird nicht vertan!'
Bevor dann doch ein and'rer käme,
stellt‘ er sich schnell dem Meister vor:
'Ich bin ein Glücklicher, hab alles'
- so sprach der der arme reiche Tor
'Oh guter Mann, ich mag Euch fragen,
wenn's denn so ist, wie Ihr mir sagt:
warum wollt Ihr den Garten haben,
wenn scheinbar gar nichts an Euch nagt?'
Es war einmal ein Keltenkrieger
Im tiefen Winter kehrt er heim
Schon lange gab's nichts mehr zu essen
Allein ein Kessel ist noch sein
Er kommt in’s Dorf, entfacht ein Feuer
Legt in den Topf nur einen Stein
Füllt auf mit Wasser, kocht 'ne Suppe
"Nun, etwas Salz, das wäre fein!"
Ein Dorfbewohner tut‘s dazu
"Das schmeckt doch schon so richtig lecker!
Noch ‘ne Karotte und ein Brot!"
Die spendet ihm der hies’ge Bäcker
Ein kleines Hühnerbein zuletzt
Auch Kräuter und etwas Getreide
Dann ist die Suppe schon perfekt
Um die ihn jedermann beneide
So manche strömen jetzt herzu
Denn Steinsuppe, die kennt noch keiner
Sie alle essen, werden satt
Am Ende bleibt zurück noch einer:
Der Stein, der hier der Anfang war
In Tuch wird er am Schluss geschlagen
Wer weiß, wozu er noch mal dient
in diesen uns’ren armen Tagen
Eine Tasse Tee
Da fehlt noch was, sagt sich der Mann
der als Professor viel errang
War sehr belesen, sehr gelehrt
weit angesehen, hoch geehrt
Er macht sich auf zu einem Berg
Dort wohnt einer Weiser, wie man hört,
der ihm vielleicht noch etwas sagt
und geben könnte einen Rat
Er findet ihn und stellt sich
vor:
Professor Dr. Dr. Mohr
Ich komme nun von ziemlich fern
und hätte Unterweisung gern
Der Mönch vom Berg, er lädt ihn
ein
zu einem Tee, der grün und fein
Er schenkt die Tasse gänzlich voll
und gießt noch weiter – ist der toll?
Der Tee läuft über Tisch und Bein
man hört den Hochgelehrten schrei’n:
"Es ist genug, es ist genug!
Was machen Sie da für Unfug?"
"Mein werter Herr, Sie können
seh‘n
So kann's nicht immer weiter geh’n
Wenn man randvoll mit altem Zeug,
mit Wissen und Gelehrsamkeit,
dann leere man die Tasse aus,
werf' manches Alte mal hinaus
Man werde still und öffne sich,
dann wird mal etwas wunderlich
Nach einer Zen-Geschichte
LAHU UND KALANKI
Lahu, war ein junger Mann
Den vieles noch so leicht erregt
Er sah einmal ein schönes Pferd
Das sich ganz frei umherbewegt
Er ging hinein ins Nachbardorf
Und fragte nach dem edlen Tier
Kalanki, ist das, sagte man
Das Schönste, was wir haben hier
Denn einen Sattel hatt‘ es nie
Und keinen Reiter je geseh‘n
Wer dieses fängt, soll König sein
Und über ihm wird keiner steh‘n
Ja, Lahu schritt sogleich zur Tat
Verfolgte, suchte jenes Pferd
Doch je mehr er sich bemühte,
Hatte es sich abgekehrt
Da riet ihm zu sein ält'rer Bruder:
'Lass Dein Bemühen nunmehr sein!
Und werde offen, nimm Dir Zeit
Ja, lade es ganz einfach ein!'
Und Lahu nahm sich sehr zurück
Ging in der Liebe auf es zu
Und langsam wurden sie vertraut
Gewalt und Zwang blieben tabu
Der Vater herzte beide Söhne
Die dieses Meisterstück vollbracht
Er hielt sein Wort und trat zurück
Hat ihn zum Könige gemacht
Nach einer Geschichte aus dem Ramayama