Natur & Spiritualität Die Liederoase
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Märchen und Sagen

 

 

 

Weltweit erzählt man Mär-‚chen‘, 'kleine Geschichten'. Das Märchen ist die jüngere Schwester der Mythe. Sie ist leichter, unterhaltsamer, verständlicher als diese. Beide jedoch geben der Seele Nahrung und Orientierung.

 

Die kleine M ä r hat stets klare, oft archetypische Paradigmen. Bei aller Gefälligkeit und Einfachheit tradiert sie aber wesentliche Erfahrungen und bewahrt die großen Themen der Menschheit:

 

 

Liebe, Weg und Initiation

 

Schicksal, Bereitschaft und Aufbruch

 

Magie, Hilfe und Weisung

 

Prüfung, Standhaftigkeit und Bewährung

 

Wahrhaftigkeit, Direktheit und Mut

 

Güte, Barmherzigkeit und Bescheidenheit

 

Tod, Übergang und Transformation

 

 

 

 

Die Sage von einer weissagenden und wohltätigen Frau, nach der ein Berg benannt und deren segensreiche Hand noch heute in der Landschaft zu sehen ist.

 

 

 

 

Sibylle von der Teck

 

Am Fuß des Teckbergs wohnte einst

Die weise Frau Sibylle

Sie hatte schönes, langes Haar

Und Augen tief und stille

 

Sie konnte in die Zukunft seh’n

Und half den Menschen gerne

Sie schien nicht ganz von dieser Welt

In ihrem Reich so ferne

 

Im Felsen hatte sie ihr ‚Schloss‘

Mit immer off‘nen Türen

Wer zu ihr kam, ging nicht leer heim

Konnt' jeden tief berühren

 

Den Mann, den hatte sie nicht mehr

Dafür drei schlimme Söhne

Vermissten ihren Vater sehr

Und spuckten große Töne

 

Ein jeder baute seine Burg

Und plünderte und raubte

Die Mutter grämte das so sehr

Dass sie nicht mehr zuschaute

 

Den Hohen Wagen spann sie an

Und nahm die beiden Katzen

Verließ das Land für alle Zeit

Und ihrer Kinder Faxen

 

Doch wo der Wagen damals fuhr

Sieht man noch heut‘ die Spuren

Im Abschied segnete sie noch

Die Wiesen, Bäume, Fluren

 

 

Der Name Sibylle geht auf die antike Prophetin zurück, die ebenfalls in einer Höhle ihre Weissagungen machte. Der Wagen, der von Katzen gezogen durch die Lüfte fährt, gehört der Göttin Freya: sie ist die Göttin des Frühlings, der Liebe, der Fruchtbarkeit. So vereinigt Sibylle von der Teck zwei große Traditionsströme in sich.

Dass die Sage einen realen Hintergrund hat, entdeckte man bei Grabungen des Landesdenkmalamtes 1982. Man fand, dass es sich bei der "Sibyllenspur" um Reste des römischen Limes handelt. Die Wissenschaftler konnten feststellen, dass zwei parallele Gräben das Tal durchzogen. Im Lauf der Zeit wurden diese Gräben mit Kalksteinen und fruchtbarer Erde aufgefüllt, so dass dieser Streifen heute noch ein besseres Wachstum ermöglicht als das umliegende Ackerland.

 

 

 

 

 

"König bün ick! König bün ick!"


DER ZAUNKÖNIG

 

Er wurd' zum König aller Vögel!
Ihr fragt: wie hat er das geschafft?
Er meisterte die höchsten Höhen
mit List und brauchte nicht mal Kraft

Der Adler wollte König werden
und stieg zur Himmel steil hinauf
Ganz stolz sah er hinab auf Erden
Nur einer war noch obenauf

Ein kleiner Gast in dem Gefieder,
der hatte sich dort wohl versteckt
Als König kam er nun hernieder
Die Vögel war'n empört, erschreckt

Er blieb der Herr der Zäune, Gärten,
schlüpft heute noch durch jedes Loch
Ein Großer kann er zwar nicht werden,
ein Herzenskönig bleibt er doch

 

Grimms Märchen KHM 171

 

 

 

 

 

 

Die ausgeblasenen Lichter

 

 

 

 

Am Hohlweg stand ein kleiner Tisch,
gedeckt mit Speis und Trank
Frau Berchta mit der Kinderschar,
sie segnete das Land

 

Die Magd, sie wollt‘ sie einmal seh‘n,
verbarg sich im Verschlag
Vom Berg her kam ein leiser Klang
und eine Stimme sprach:

 

Zwei Lichter sind zu viel am Ort
Kind, blase sie doch aus
Die Magd wurd‘ blind, konnt‘ nichts mehr seh’n,
beschämt ging sie nach Haus

 

Doch lebte auf dem großen Hof
auch eine alte Frau
Die kannte noch die alte Zeit
und wusste noch genau

 

die Mär der großen Spinnerin,
Geschichten alter Zeit,
erzählte sie der jungen Magd
Die sah - ihr Herz wurd‘ weit

 

‚Ach‘ klagte sie, es war ihr arg
'Ich wollt‘ die Göttin schau‘n,
missachtete ihr klar‘ Gebot
Ich konnt‘ noch nicht vertrau’n!'

 

Das rührt‘ die Bercht von ferne her:
‚Kind, blas die Lichter an!‘
Oh Wunder: sie konnt' wieder seh’n -
vom Berg her kam Gesang

 

 

 

Nach der Sage 'Die ausgeblasenen Lichtlein' in
K. Paetow: Frau Holle, Märchen und Sagen, Hannover 1952

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ist unser Los entschieden?

Ist es vorherbestimmt?

Man kann das Schicksal formen

Wenn man sich klug verhält

 

 

 

 

 

Die "Geschichte von Norna-Gest" -

eine isländische Märchensage aus dem 13. Jh.

 


 

Ein Fremder namens Gest erscheint am Hofe von König Olaf Tryggvason in Trondheim, Norwegen 998 n. Chr. Er ist alt und doch überraschend stark und verblüfft die Gefolgsleute des Königs durch seine Fähigkeiten im Harfenspiel und im Erzählen von Geschichten. Der Fremde befragt, wie er so viel über längst vergangene Zeiten wissen kann, enthüllt, dass er auch der Nornen-Gest heißt - und dies ist seine Geschichte:

 

 

 

 

 

Das Kind lag in der Wiege

Zwei Kerzen brannten still

Drei Frauen war’n gerufen

Es war des Vater’s Will‘

 

Zwei Seherinnen sprachen

‚Glück künden wir dem Kind!‘

Ein großer Mann soll’s werden

Das sei ihm so bestimmt!‘

 

Die jüngste stand daneben

Man hat sie nicht gefragt

Stieß sie sogar vom Stuhle

Da hat sie was gesagt:

 

‚So lang wie diese Kerze

Hier brennt, so lange leb!

Dies Haus ist nicht so gütig

Dass man es hoch erheb!‘

 

Die älteste der Nornen

Erschrak bei diesem Wort

Sie nahm beherzt die Kerze

Und löschte sie sofort

 

Sie gab sie seiner Mutter

Sie sollte sie verwahr’n

'Erst an dem Todestage

Zünd‘ man sie wieder an!'

 

Gest wurd ein großer Sänger

Ein kluger, starker Mann

Er focht an Sigurd’s Seite

Nie kam der Tod heran

 

Er ging zum Hof des Königs

Mit seiner Harfe Klang

Ihn liebten alle Leute

 Wenn er die Lieder sang

 

Er ließ sich schließlich taufen

Der König wollt‘ es so

Bewährte sich auch hierin

Doch nicht mehr ganz so froh

 

"Wie lang will er denn leben?"

Der König fragt ihn an

'Bei Gott, nur noch ein wenig 

Ich lebe schon so lang!'

 

Er nahm aus seiner Harfe

Die Kerze gleich heraus

Versteckt in ihrem Rahmen

War sie tagein tagaus

 

"Wie alt ist er geworden?"

'Dreihundert Jahre schon!

Nun ist es Zeit zu gehen

Mein Schicksal war mein Lohn'

 

Das Licht wurd angezündet

Der Priester wurd' bestellt

Gab ihm den letzten Segen

Sein Schicksal war erfüllt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Buchtipp

 

 

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© Jürgen Wagner