Märchen und Sagen
Weltweit erzählt man Mär-‚chen‘, 'kleine Geschichten'. Das Märchen ist die jüngere Schwester der Mythe. Sie ist leichter, unterhaltsamer, verständlicher als diese. Beide jedoch geben der Seele Nahrung und Orientierung.
Die kleine M ä r hat stets klare, oft archetypische Paradigmen. Bei aller Gefälligkeit und Einfachheit tradiert sie aber wesentliche Erfahrungen und bewahrt die großen Themen der Menschheit:
Liebe, Weg und Initiation
Schicksal, Bereitschaft und Aufbruch
Magie, Hilfe und Weisung
Prüfung, Standhaftigkeit und Bewährung
Wahrhaftigkeit, Direktheit und Mut
Güte, Barmherzigkeit und Bescheidenheit
Tod, Übergang und Transformation
Die Märchen haben es erzählt
Es zieht den Menschen in die Welt
Es gibt etwas zu tun, zu finden!
Man muss sich einmal überwinden
um aufzubrechen, was zu wagen.
Erst unterwegs wird man beraten
Man nimmt es sich dann schon zu Herzen,
hat Prüfungen, erleidet Schmerzen –
bis alles ist getan, vollbracht.
Es geht durch Kämpfe, durch die Nacht
bis man den Drachen hat bezwungen,
für sich und and're was errungen
"König bün ick! König bün ick!"
DER ZAUNKÖNIG
Er wurd' zum König aller Vögel!
Ihr fragt: wie hat er das geschafft?
Er meisterte die höchsten Höhen
mit List und brauchte nicht mal Kraft
Der Adler wollte König werden
und stieg zur Himmel steil hinauf
Ganz stolz sah er hinab auf Erden
Nur einer war noch obenauf
Ein
kleiner Gast in dem Gefieder,
der hatte sich dort wohl versteckt
Als König kam er nun hernieder
Die Vögel war'n empört, erschreckt
Er blieb
der Herr der Zäune, Gärten,
schlüpft heute noch durch jedes Loch
Ein Großer kann er zwar nicht werden,
ein Herzenskönig bleibt er doch
Grimms Märchen KHM 171
Frau Holle
Der alte Brunn mit seinen Tiefen,
in den wir manchmal sehnlich riefen,
sein Echo kam uns spät und leis:
gesegnet sei dein Müh und Fleiß!
Das alte Haus in Himmels Höhen,
hinauf wir manchmal flehend sehen,
es fragt uns nur kaum hörbar sacht:
nimmst Du dein Haus heut gut in acht?
Die alte Spinnerin ist uns verborgen
Es nützt uns nichts, dass wir uns sorgen
Doch können wir auf eines bau'n:
spinn deinen Faden im Vertrau'n!
Frau Holle ist eine volkstümliche Gestalt, die in christlicher Zeit nicht mehr als Göttin auftreten, aber doch das Erbe der alten Göttinnen übernehmen und weitertragen konnte. In ihren Märchen und Sagen fließt sehr viel ein: die das Schicksal ‚spinnenden‘ Nornen, der weise Urbrunnen, Frigga und Freya und sogar die Todesgöttin Hel. So wurde aus dem vorchristlichen Erbe der göttlich-weibliche Aspekt genuiner gerettet und bewahrt als in der Gestalt der Himmelskönigin und Gottesmutter Maria.
Unter dem Namen 'Holle' hat sie ihren
lokalen Schwerpunkt in Hessen und Thüringen, unter anderem Namen (Percht, Frau Gode, Frau Harke usf.) ist sie in anderen Gegenden bekannt. Ihre Hauptzeit ist der Winter, ihre heilige Zeit ist die
Weihnachtszeit der Rauhnächte.
Goldmarie
Geplagt an allen Tagen sitzt sie am
Brunnenrand
Sie spinnt ganz unermüdlich, die Spule in der Hand
bis ihre Finger bluten, sie wäscht die Spule
aus
Da fällt die in die Tiefe. Sie rennt vor Schreck nach Haus.
‚Hol‘ sie gefälligst wieder‘, so schilt die
Mutter sie
Sie geht zurück zum Brunnen, ist ratlos wie noch nie
Mit allen ihren Ängsten, fasst sie sich doch ein
Herz
und springt in seine Tiefe empfindet keinen Schmerz
Verliert dort die Besinnung und wacht dann
wieder auf
Sieht sich auf einer Wiese - da blüht es ja zuhauf!
Sie trifft auf Brot und Äpfel, die sprechen leis
zu ihr
Tut alles, was vonnöten, direkt und ohn‘ Begier
Geht weiter ihres Weges zum Haus der alten
Frau
Erschreckend sind die Zähne, doch spürt sie ganz genau,
sie kann ihr wohl vertrauen. Sie dient ihr Tag
um Tag
macht alles, was geheißen und tut es ohne Frag‘
So regnet, schneit‘s auf Erden, Natur geht ihren
Gang
Sie dient der Großen Mutter. Es tönt der Weltgesang
Sie darf zurück nach Hause ins Reich der
Menschen geh’n
Am Tor wird sie gesegnet um Neues zu besteh’n
Pechmarie
Verwöhnt nach Strich und Faden, nichts Eigenes
erreicht
Sie sieht die güld'ne Schwester und wird ganz furchtbar bleich
Nun geh schon, sagt die Mutter. Das kann so
schwer nicht sein
Folg‘ nur der Schwester Spuren, dann ist das bald auch Dein ...
Sie trifft auf Brot und Äpfel und ihre täglich‘
Pflicht
Das ist ihr viel zu lästig. Das ist es sicher nicht!‘
So geht sie eilends weiter und trifft die alte
Frau
Die kann sie nicht erschrecken, sie weiß schon ganz genau
was täglich ist zu leisten. Sie lässt sich
darauf ein,
doch wird sie sehr schnell müde - und lässt die Pflicht Pflicht sein
Die Betten frisch zu
machen, das ist so wichtig nicht!
Sie lässt es heut mal schleifen - sieh da: das Bündnis bricht!
Sie geh‘n zurück die
Wege Marie hofft noch darauf
dass sie doch auch empfange ... Sie sieht: das Tor ist auf
Verweilend auf der
Schwelle, das Glück zum Greifen nah
Nun mag es doch geschehen! Tatsächlich: es geschah
Es regnete hernieder der Himmelssegen hold
Doch fand er nichts ihm Gleiches - und wurde Pech statt Gold
Die ausgeblasenen Lichter
Am Hohlweg stand ein kleiner
Tisch,
gedeckt mit Speis und Trank
Frau Berchta mit der Kinderschar,
sie segnete das Land
Die Magd, sie wollt‘ sie einmal seh‘n,
verbarg sich im Verschlag
Vom Berg her kam ein leiser Klang
und eine Stimme sprach:
Zwei Lichter sind zu viel am Ort
Kind, blase sie doch aus
Die Magd wurd‘ blind, konnt‘ nichts mehr seh’n,
beschämt ging sie nach Haus
Doch lebte auf dem großen Hof
auch eine alte Frau
Die kannte noch die alte Zeit
und wusste noch genau
die Mär der großen Spinnerin,
Geschichten alter Zeit,
erzählte sie der jungen Magd
Die sah - ihr Herz wurd‘ weit
‚Ach‘ klagte sie, es war ihr arg
'Ich wollt‘ die Göttin schau‘n,
missachtete ihr klar‘ Gebot
Ich konnt‘ noch nicht vertrau’n!'
Das rührt‘ die Bercht von ferne her:
‚Kind, blas die Lichter an!‘
Oh Wunder: sie konnt' wieder seh’n -
vom Berg her kam Gesang
Nach der Sage 'Die ausgeblasenen Lichtlein' in
K. Paetow: Frau Holle, Märchen und Sagen, Hannover 1952
Wie der Vogelsberg zu seinem Namen kam
Wo einst das Feuer aus der Erde schoss,
manch Lavastrom sich heiß ergoss,
da ging es höllisch zu auf Erden
Getier und Bäume mussten sterben
Viel später, als der Stein erkaltet,
erzählt man sich, der Teufel waltet
bisweilen noch an diesem Ort.
Ein armer Schmied beschwor ihn dort:
‚verkaufen tu ich meine Seele
für drei Jahre, die ich wähle,
da will ich einmal was erleben
und mich dem Reichtum ganz ergeben!
Am Ende stell ich dir drei Proben -
bestehst du, kannst mich gerne holen!
Der Teufel willigte gleich ein
und gab ihm Geld noch obendrein
Drei Jahre gingen schnell vorüber,
die Stimmung wurde merklich trüber
Was sollte er den Teufel fragen?
Bald ging es ihm doch an den Kragen
Er suchte und lief durch die Wälder
Nun nützten ihm auch keine Gelder
Da traf er eine alte Frau:
‚Mein lieber Mann, ich weiß genau,
in welcher Lage du jetzt bist!
Wenn du mir hier und heut versprichst,
ein guter, fleiß’ger Mann zu werden,
bleibst du ein freier Mann auf Erden!‘
Der Schmied versprach’s, bekam den Rat.
Um Mitternacht fuhr in der Tat
der Teufel durch die heiße Esse
‚Nun ist’s an dir‘, sprach kühn der Hesse,
riss sich ein Haaresbüschel aus:
‚da schmiede mir was Grades draus!‘
Der Teufel nahm es voller Wut
und warf es in des Feuers Glut ...
Der Mann fing Eisen an zu schmieden.
‚Was das wohl wird? Hast du‘s entschieden?‘
‚Das wird ne Schippe für dein Feuer!‘
Er schlug auf’s Eisen ungeheuer
und gab der Stange einen Bogen
‚Es wird ne Hacke, ungelogen!‘
Der Teufel war nun sehr erbost,
der Mann, schon beinahe getrost,
nahm ihn herüber in den Garten
und ließ ihn eine Weile warten
‚Siehst du den Vogel dort im Baum,
so einen großen kennst du kaum!‘
Was könnte das für einer sein?
Dem Teufel fiel so gar nichts ein
Mit einem Fluch und viel Gestank
für immer er von dort verschwand ...
Der Vogel kam sogleich herunter
Es war die Frau, die, nun putzmunter,
zuvor sich in dem Brotteig wälzte,
und sich mit Gänsefedern pelzte
Der Schmied hat wohl daran gedacht,
was er im Wald da abgemacht
Er wurd‘ ein redlich tücht’ger Mann
im ‚Vogelsberg‘ – so hieß es dann
Blick vom Bilstein in die Vulkanregion Vogelsberg
Das Wasser des Lebens
Als wir einmal als Studenten in Israel nach einer Wüstenwanderung ziemlich ausgedörrt ein kleines arabisches Haus mit einem rostigen Fass und verdrecktem Wasser erreichten und endlich etwas trinken konnten, wussten wir, wie sehr Wasser ‚Lebenswasser‘ ist.
In den religiösen Traditionen wie in den Volksmärchen gibt es das Symbol des ‚Wassers des Lebens‘. Obwohl Wasser an sich schon das Lebenselement schlechthin ist, meint es dort noch etwas Anderes, Jenseitiges:
„Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr durstig sein. Das Wasser, das ich ihm gebe, wird in ihm zu einer Quelle werden, die unaufhörlich fließt, bis ins ewige Leben“ (Jesus zur Frau am Brunnen in Joh 4,14).
Hier ist die Rede von einer Wesensverwandlung, wo aus einem immer Durstigen, Gierigen ein friedvoller und segensreicher Mensch wird. Das Wasser des Lebens ist hier eine geistige Gabe, die den Menschen innerlich heilt.
Auch die Volksmärchen greifen diesen Zusammenhang auf. Ein kranker König kann nur durch dieses besondere ‚Wasser des Lebens‘ geheilt werden, das verborgen quasi in einer anderen Welt existiert und streng bewacht wird. Nur ein Mensch, der reinen Herzens ist, hat überhaupt die Chance, dahin zu gelangen. Meistens bekommt er unterwegs eine entscheidende Hilfe von einem Zwerg oder einem sprechenden Tier, was an die schamanischen Reisen erinnert, wo Heilung auch nur mit Hilfe der Tier- oder Pflanzengeister gelingt. Erreicht der Märchenheld endlich jenen sagenhaften Ort, steht er vor einem Brunnen mit einem schlafenden Mädchen, das den Quellgeist verkörpert.
„Wasser wurde schon immer als ein weibliches Element verstanden und das Wasser einer Quelle galt früher als heilig und jungfräulich. Auch in den Volksmärchen sind die Symbole der Jungfrau und des Lebenswassers eng miteinander verbunden“ (Adelheid Heim, Märchenforum 59/2013, S. 15f)).
Während im Alten (Ps 36/9) und Neuen Testament das ‚Wasser des Lebens‘ nicht weiter ausgedeutet wird, erzählen die Volksmärchen in vielen Ländern eine lange und verwickelte Geschichte. Ein ganzes Lebensdrama wird typologisch entfaltet und dem Hörer erzählt, wie es durch viele Prüfungen hindurch, mit etwas Glück und Hilfe doch zu einem guten Ende geführt werden kann. Es geht eigentlich gar nicht so sehr um den kranken König am Anfang der Geschichte, sondern um den jungen Helden, er sich um die Rettung bemüht und sein Leben dafür einsetzt. Er ist am Ende selbst der Gerettete – und der, der Hochzeit feiern und das Königreich übernehmen darf. Das Märchen erzählt auch immer den Antitypos, erzählt, wie man es nicht machen sollte. Die zwei älteren Brüder übernehmen meist diese Rolle, der jüngste übernimmt die des aufrechten, lernbereiten Menschen.
Wie das gewöhnliche Wasser den Verdurstenden in der Wüste retten kann, so ist das ‚Wasser des Lebens‘ ein Symbol für das, was uns Menschen innerlich heilen, unser endloses innere Dürsten stillen kann. Während die religiösen Traditionen zur Hinwendung zu Gott auffordern, legen die Märchen in ihren Bildern nahe, dass es ein Weg des Menschen in seine eigenen Tiefen ist, der hier gegangen werden muss. Der geheimnisvolle Brunnen, den Löwen bewachen und an dem eine junge Frau schlummert, der ist man letztlich selbst. Diese ‚Reise nach innen‘ ist wohl die längste (Dag Hammarskjöld) und abenteuerlichste, aber auch die verheißungsvollste, die ein Mensch unternehmen kann.
Märchenbeispiele:
http://maerchenbasar.de/…/br…/390-das-wasser-des-lebens.html
Ist unser Los entschieden?
Ist es vorherbestimmt?
Man kann das Schicksal formen
Wenn man sich klug verhält
Die "Geschichte von Norna-Gest" -
eine isländische Märchensage aus dem 13. Jh.
Ein Fremder namens Gest erscheint am Hofe von König Olaf Tryggvason in Trondheim, Norwegen 998 n. Chr. Er ist alt und doch überraschend stark und verblüfft die Gefolgsleute des Königs durch seine Fähigkeiten im Harfenspiel und im Erzählen von Geschichten. Der Fremde befragt, wie er so viel über längst vergangene Zeiten wissen kann, enthüllt, dass er auch der Nornen-Gest heißt - und dies ist seine Geschichte:
Das Kind lag in der Wiege
Zwei Kerzen brannten still
Drei Frauen war’n gerufen
Es war des Vater’s Will‘
Zwei Seherinnen sprachen
‚Glück künden wir dem Kind!‘
Ein großer Mann soll’s werden
Das sei ihm so bestimmt!‘
Die jüngste stand daneben
Man hat sie nicht gefragt
Stieß sie sogar vom Stuhle
Da hat sie was gesagt:
‚So lang wie diese Kerze
Hier brennt, so lange leb!
Dies Haus ist nicht so gütig
Dass man es hoch erheb!‘
Die älteste der Nornen
Erschrak bei diesem Wort
Sie nahm beherzt die Kerze
Und löschte sie sofort
Sie gab sie seiner Mutter
Sie sollte sie verwahr’n
'Erst an dem Todestage
Zünd‘ man sie wieder an!'
Gest wurd ein großer Sänger
Ein kluger, starker Mann
Er focht an Sigurd’s Seite
Nie kam der Tod heran
Er ging zum Hof des Königs
Mit seiner Harfe Klang
Ihn liebten alle Leute
Wenn er die Lieder sang
Er ließ sich schließlich taufen
Der König wollt‘ es so
Bewährte sich auch hierin
Doch nicht mehr ganz so froh
"Wie lang will er denn leben?"
Der König fragt ihn an
'Bei Gott, nur noch ein wenig
Ich lebe schon so lang!'
Er nahm aus seiner Harfe
Die Kerze gleich heraus
Versteckt in ihrem Rahmen
War sie tagein tagaus
"Wie alt ist er geworden?"
'Dreihundert Jahre schon!
Nun ist es Zeit zu gehen
Mein Schicksal war mein Lohn'
Das Licht wurd angezündet
Der Priester wurd' bestellt
Gab ihm den letzten Segen
Sein Schicksal war erfüllt
DER MÄRCHENKÖNIG
Es war einmal ein schöner, junger Königssohn, der gerne träumte. Er las, hörte Musik und liebte es, sich zu verkleiden. Als Kind baute er mit seinen Bausteinen Kirchen und Klöster. Sein Vater aber hatte keine Zeit für ihn und wusste nicht, was er mit ihm reden sollte. Er achtete nur darauf, dass sein Sohn streng und tugendhaft erzogen wird. Die Mutter zeigte ihm auf langen Spaziergängen die Natur, nur für die Kunst hatte sie keinen Sinn. Weder der König noch die Königin verstanden es, ihren Sohn an sich zu ziehen und ihm Nähe und Geborgenheit zu schenken. Das Wort Liebe war in diesem Haus tabu und wurde bei Lesungen durch ‚Freundschaft‘ ersetzt.
Als sein Vater stirbt, ist er gerade 18 Jahre alt. So jung noch wird er schon König von Bayern. Doch niemand hat ihn auf seine neue Aufgabe mit all ihrer Verantwortung und Bürde vorbereitet. So lebt er seine Neigungen weiter - nur alles viel prächtiger. Auf dem Dach seiner Münchner Residenz lässt er sich einen herrlichen tropischen Garten bauen, eine fantastische Gegenwelt zum Alltag seiner Untertanen. Schauspieler müssen ihm dort Stücke vortragen. Im königlichen Hoftheater lässt er sich Opern vorspielen als einziger Zuschauer; kein anderer kann ihn mehr stören. Er liebt die Oper - und Musik ist seine Leidenschaft. Er lebt ein Leben, das der Kunst geweiht ist – und Geld darf keine Rolle spielen.
Sein Königreich aber, in dem die industrielle Revolution begonnen hat, ist immer noch bürgerlich. Man erhofft sich Veränderungen vom jungen König. Doch die Menschen werden enttäuscht: er hat andere Pläne. Er baut sich Märchenschlösser und –burgen in den Bergen, befreit von allen Zwängen. Seinen Staat und sein Volk treibt er damit in die Verschuldung. Er erfüllt zwar seine Regierungspflichten, führt sogar Kriege, aber er zieht sich immer mehr von den Menschen zurück. Mehr und mehr will er überhaupt niemanden mehr sehen und lebt ganz allein in seinen Schlössern und in der Natur.
Der ‚Märchenkönig‘, wie man ihn nannte, hatte schon vom Wasser des Lebens getrunken. Er kannte die Schönheit, die Gesundheit, die Lebensfreude, den Frieden, die Natur, den Reichtum. Aber: er hat es nicht mit anderen geteilt. Nur mit einem einzigen Menschen pflegte er ein vertrautes Verhältnis: mit seiner Cousine Sissi von Österreich. Mit deren jüngsten Schwester verlobte er sich. Doch aus der Traumhochzeit wurde nichts: er löste die Verlobung. Auf seinem eigenen Verlobungsball verließ er die Veranstaltung nach einer Stunde, um sich ein Theaterstück anzusehen. Obwohl ihn viele verehrten und liebten: er mochte die Menschen nicht. Er wollte nicht mit ihnen zusammen sein – nur die Lust trieb ihn noch dazu, mit ein paar jungen Männern für kurze Zeit sein Leben zu teilen. Aber länger hielt er es mit keinem aus. So vereinsamte er mehr und mehr, flüchtete sich in Süßigkeiten, in immer neue Bauprojekte und in die Kunst. Er wurde immer dicker, immer unglücklicher und verzweifelter. Nachts hatte er Alpträume, jemand würde in sein Schloss eindringen und ihn umbringen wollen. Er dachte daran, sich in einem See zu ertränken.
Seine Minister wollten nicht länger einen König, der sein Land verschuldete und nichts mehr mit seinem Volk zu tun haben will. So ließen sie ihn heimlich beobachten und ein ärztliches Gutachten erstellen, das ihn für paranoid erklärte. Sein Onkel übernahm die Regierung und ließ ihn in einer Nacht auf seinem Schloss festnehmen und in ein Schloss am Starnberger See bringen, das er nicht mehr verlassen durfte. Auf einem Spaziergang im Park lief er vor seinem Arzt davon und rannte in den See. Sein Arzt folgte ihm und es kam zu einem Kampf. Man konnte später nur noch die beiden Leichen bergen.
Ludwig II. (1845-86) baute die Schlösser Herrenchiemsee, Linderhof und das weltberühmte Neuschwanstein, er hasste Kriege, förderte Richard Wagner, produzierte immense Schulden – und starb entmündigt unter umstrittenen Umständen im Starnberger See. Anstatt wie andere Herrscher feudal zur Jagd zu reiten oder den Feldherrn zu geben, plante er lieber neue Bauten, tüftelte an raffinierten Erfindungen und träumte vom Fliegen. Bis heute verehren ihn Anhänger - als Visionär, Technikfreak und „Friedensfürsten“ - als den 'Märchenkönig'.
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